Nun schon zum achten Mal machten sich interessierte Schülerinnen und Schüler aus diversen Schulen der Kreise Siegen-Wittgenstein und Olpe auf den Weg nach Hilchenbach, um ihren Horizont im Bereich der Naturwissenschaften und Technik zu erweitern.
In diesem Jahr zog es 23 junge Forscherinnen und Forscher in das Exzellenz-Camp, welches seit 2011 vom Verein Begabte Siegen e.V. in Kooperation mit dem Gymnasium Stift-Keppel Hilchenbach und dem Fürst-Johann-Moritz-Gymnasium Siegen veranstaltet wird und in jedem Jahr ein anderes spannendes Thema und Forschungsgebiet bereithält.
Für unsere jungen Forscher hieß es, innerhalb von vier Tagen das komplexe Thema der Digitalisierung, Automatisierung sowie das weite Feld einer „Industrie 4.0“ zu erschließen. Um das Camp für die Teilnehmer noch spannender und auch nachhaltiger zu gestalten, bekamen sie neben den Exkursionen die Gelegenheit, mit Informatikern und App-Entwicklern gemeinsam zu arbeiten und die Grundlagen der App-Programmierung auf Android-Basis kennenzulernen. Begleitet wurden unsere Camper, wie in jedem Jahr, von Alexander Degenkolb als Vertreter des FJM sowie von Lisa Gruhn und Alexander Stierl vom Gymnasium Stift-Keppel, die zum ersten Mal das Mint-Camp betreuten. Die organisatorische Federführung hatte Andre Asschoff, ebenfalls Stift Keppel und zugleich Medienberater für die Schulen im Raum Siegen-Wittgenstein.
Vier Tage Erkundung, Forschung & Anwendung
Kaum im Camp angekommen und die Zimmer im Tagungsgebäude des historischen Stifts bezogen, ging es am Nachmittag bis in die Abendstunden direkt in das erste Grundlagenseminar zur App-Programmierung, welches durch den erfahrenen Informatiker und App-Programmierer Julian Wodrazka geleitet wurde. Bereits hier zeichneten sich die hohe Motivation und das Engagement der Camp-Teilnehmer ab, sich in dieses komplizierte Metier der Informatik einzuarbeiten.
Das erste Exkursionsziel am darauffolgenden Tag führte die Camper in die Werkstatt von Prof. Dr. Ralph Dreher, welcher den Lehrstuhl für Technikdidaktik an der Universität Siegen innehat und unsere jungen Forscher in die Thematik auf theoretischer, aber auch praktischer Ebene einführen sollte. Professor Dreher als ehemaliger Berufsschullehrer und Dozent für Lehrerausbildung an den Universitäten Hamburg, Hamburg-Harburg und Flensburg spannte einen weiten Bogen von den Anfängen der Automatisierung und Digitalisierung über aktuelle industrielle Entwicklungsstränge und arbeitsmarkttechnische Veränderungen hin zu zukunftsweisenden KI-Systemen, die fähig zur Selbstkorrektur und Selbststeuerung sein werden. Als kritischer Denker und Didaktiker schlug Professor Dreher im gemeinsamen Diskurs jedoch nicht nur positive Töne dieser Entwicklung an, auch warnende orwellsche, ja beinah, dystopische Aspekte führte er ins Feld und verwies auf die Problematik der Entfremdung und des Identitätsverlusts durch die zunehmende Digitalisierung im industriellen Produktionsprozess und letztlich darauf, dass der Mensch vor seinem größten Anpassungsprozess stünde. Vor der Gefahr einer neuen zukünftigen Zwei-Klassen-Gesellschaft, die nicht länger von Besitzenden und Besitzlosen, sondern vielmehr von einer Klasse digitaler Bildungsverlierer und einer technisch-digitalen Bourgeoisie geprägt sein wird, mutete der praktische Teil dieser Exkursion, die Schritte eines Reifenwechsels durchzuführen und zu analysieren, beinah als kleine geistige Pause an. Mit einer Fülle an Kontroversen und der Frage, inwieweit Ingenieure und Forscher Verantwortung für ihre Entwicklungen tragen, ging es am Abend wieder an die Laptops, um weiter an der eigenen App zu programmieren.
Mensch und Maschine im Dialog
Der dritte Tag sollte noch tiefer in den technischen und informatischen Teil unserer mehr und mehr vernetzten und digitalisierten Welt einführen. Die Firma CONZE in Siegen, die in Lennestadt ihren Ursprung hat und eine weitere Zweigstelle in Düsseldorf führt, ist spezialisiert auf sog. User Interface Engineering, also auf Mensch-Maschine-Schnittschnellen und die Frage, wie diese für den Arbeitsalltag praktikabel sowie softwareseitig umgesetzt werden können. So erfuhren die Camper beispielsweise von einer neuen Scanmethode für Zahnärzte, die Dank einer speziellen Kamera und angepasster Software das alte Kieferabdruckverfahren mittels einer Silikonmasse überflüssig macht und gleichzeitig die direkte 3D-Bearbeitung am Computer ermöglicht. Besonders interessant war dabei der Blick in die Zukunft von Virtual Reality und Augmented Reality. Sind die aktuellen Brillen für Augmented Reality noch recht unausgereift und nur mit einem begrenzten Funktionshorizont ausgestattet, so soll diese Technologie in der nächsten Dekade grundsätzlich unseren Weg, wie wir Daten mit unserer sozialen Umwelt und Arbeitswelt verknüpfen, definieren. So soll beispielsweise ein Arzt während einer OP mit Hilfe einer Augmented Reality-Brille ein digitales Bild des Operationsbereiches über den Patienten gelegt bekommen, sodass der Eingriff noch präziser erfolgen kann. Für den normalen Einkauf wären Echtzeit-Vergleiche von Preis, Herkunft und Qualität möglich, die direkt über die AR-Brille abgerufen werden können. Selbstverständlich sollte auch der Spaß nicht zu kurz kommen, sodass die Camper beide Technologien direkt vor Ort ausprobieren konnten. Es ist schon faszinierend, was bereits heute möglich ist, nur mit dem aufziehen einer VR-Brille augenblicklich auf dem höchsten Gebäude von Gotham City zu stehen und ein tatsächliches Höhenerlebnis zu verspüren oder zu erleben, wie mittels der AR-Technologie ein T-Rex plötzlich mitten im Raum auf einen zukommt. Der Besuch bei CONZE zeigte sehr eindrucksvoll, dass die digitale Vernetzung in sämtliche Lebensbereiche Einzug gehalten hat und sich noch weiter vertiefen wird.
Wissensmanagement in der vernetzten Gesellschaft
Mit diesem faszinierenden Einblick ging es für die Camper an die Universität zu Prof. Dr. Fathi, dessen Mitarbeiterin Dr. Dornhöfer uns einen theoretischen Einblick in das komplexe Feld des Wissensmanagements bot. Was im ersten Moment für die Camper recht trocken anmutete, entpuppte sich als äußerst spannende Reise durch die Problematik, jene unglaubliche Datenmenge, die sich durch die Neuartigkeit der digitalen Vernetzung ergibt, zu koordinieren, zu archivieren, zur Verfügung zu stellen und miteinander zu verknüpfen. In einem Zeitalter, in dem sich das Weltwissen alle zwei Jahre verdoppelt, stellt sich die Frage nach dem Wissensmanagement neu: wie können wir überhaupt künftig mit dieser Informations- und Datenexplosion, die Forscherin sprach von information overload, umgehen?
Am späteren Nachmittag, zurück in Stift-Keppel, konnte ein Vortrag der Siegener Firma TiSC, geleitet durch Herrn Betz, das Thema um die Industrie 4.0 abrunden. Die Firma TiSC ist ein Unternehmenszusammenschluss der beiden erfolgreichen Firmen GIB und QOSIT, die beide ihren Standort in Siegen führen und durch die Essener ifm-Unternehmensgruppe im Bereich Automatisierungstechnik weitere Unterstützung mittels einer Mehrheitsbeteiligung erfahren.
Herr Betz konzentrierte sich im Diskurs mit unseren Campern direkt auf die Wertschöpfungskette im Industrie 4.0 Prozess und darauf, wie die Produktion mit Hilfe erweiterter Konnektivität, Aggregation und Integration moderner IT-Lösungen und Techniken effizienter gestaltet werden kann. Doch es ging in diesem Diskurs nicht allein um Effizienzsteigerung. Unsere jungen Forscher erkannten nun das eigentlich revolutionäre an der Industrie 4.0, ähnlich der Einführung der Dampfmaschine in der ersten Welle der Industrialisierung. Denn es handelt sich um eine grundlegende Reformierung der industriellen und technischen Infrastruktur, in der Synergien und auch Transparenz in den Fertigungsabläufen entstehen und der Mensch nicht länger außerhalb steht, sondern direkter Teil der komplexen Vernetzung sein wird.
Und abends? Programmieren …
Trotz des sehr gefüllten Tagesprogramms, gingen die Camper am Abend erneut motiviert an ihre App-Programmierung, wie an den Vorabenden begleitet und unterstützt durch Informatiker und Betreuer Alexander Stierl.
Neben den Seminaren, Exkursionen und abendlicher Programmierung kam natürlich auch das Miteinander nicht zu kurz, sei es beim themenspezifischen Abendfilm oder einer Spielerunde. Freundschaften wurden geschlossen, interessante Standpunkte ausgetauscht und sogar ein neuer Camp-Rekord im Lösen des Rubik-Zauberwürfels aufgestellt ... 18,6 Sekunden!
Unser Camp endete nach spannenden und äußerst produktiven Tagen mit der obligatorischen Präsentation der Errungenschaften vor versammelter Elternschaft. Und unsere jungen Forscher können wahrlich stolz auf das sein, was sie in diesen 4 Tagen erreicht, gelernt und umgesetzt haben! Am Ende stand nicht nur ein erweiterter Wissenshorizont in puncto Digitalisierung und Industrie 4.0 auf der Habenseite, die Camper schafften es auch eine funktionierende App mit graphischer Oberfläche auf die Beine zu stellen und die dahinterliegende Programmierung samt aller Algorithmen dem Publikum zu erklären und näher zu bringen.
Es war erneut ein sehr erfolgreiches Camp, das wieder einmal unter Beweis stellte, wie wichtig solch außerschulische Lernorte sind, um Interessen und Fähigkeiten junger Schülerinnen und Schüler zu fördern und vielleicht sogar die nächste Forschungselite auf den Weg zu bringen. Der Camper als Nobelpreisträger? Wer weiß?
Wir Camp-Leiter freuen uns bereits jetzt auf weitere junge Forscher im nächsten Jahr.
Alexander Degenkolb
Fürst-Johann-Moritz-Gymnasium Siegen